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Interview

Mythen über Rückenschmerzen – Interview mit Caspar Clinic Therapeut Laurence Wacker

von Verena Kalb am 21. Juni 2022

Caspar Health bietet ‘kombinierte Versorgung’: ein Produkt aus digitaler Therapie, auf Basis der Caspar Software, und persönlicher Therapiebegleitung, durch ein hochqualifiziertes und multiprofessionelles medizinisch-therapeutisches Team. In regelmäßigen Beiträgen lassen wir Caspar Health Expert*innen zu Wort kommen und wollen gemeinsam mit ihnen den größten Mythen und spannendsten Themen ihrer jeweiligen Spezialgebiete auf den Grund gehen.

Den Auftakt macht Sportwissenschaftler Laurence Wacker mit 5 Mythen zum Thema Rückenschmerzen. Er erklärt, was wirklich hinter den Mythen steckt und wie der aktuelle Stand der Forschung dazu ist. Der Sportwissenschaftler mit dem Studienschwerpunkt “Psychologie und Bewegung” hat seine Abschlussarbeit über die “Prävention von (chronischen) Rückenschmerzen” verfasst und verfügt zudem über eine mehrjährige Erfahrung als Fitness- und Rehatrainer.

Laurence Wacker begeistert sich selbst sehr für die Themen Training, Reha und Gesundheit.
Seine Leitsprüche sind “Reha darf auch sexy sein” und “Rehabilitation ist im Endeffekt nichts anderes als Training, nur mit einem anderen Ausgangspunkt.”

Mythos 1: Bei Rückenschmerzen sollte man sich schonen

Das ist ein weit verbreiteter Mythos, den man bei Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule immer wieder zu hören bekommt. Wissenschaftlich konnte das schon lange widerlegt werden, da man erkannt hat, wie wichtig Bewegung zur Prävention von Rückenschmerzen und auch bei der Rehabilitation ist. Bettruhe bei Rückenschmerzen war gestern! 

Bei akuten Beschwerden kann natürlich eine kleine Pause eingelegt werden und es sollten nicht noch weiter schmerzprovozierende Tätigkeiten ausgeübt werden. Nach einer kurzen Ruhephase sollte man dann jedoch schnellstmöglich wieder in die Bewegung zurückfinden und hier ist das Motto wirklich: Jede Form der Bewegung hilft. Spazieren gehen oder leichte sportliche Aktivitäten stärken die Muskulatur rund um die Wirbelsäule und sorgen dafür, dass sich durch eine plötzliche Inaktivität die akuten Beschwerden nicht noch länger hinziehen. Denn auch das wurde mittlerweile wissenschaftlich bewiesen: Je länger die Zeit der Inaktivität bei Rückenschmerzen, desto langwieriger ist der Heilungsprozess. Bewegung ist die beste Medizin! 

Solange also keine schwerwiegenden Symptome, sogenannte “Red Flags”, wie Taubheitserscheinungen, Lähmungen oder Inkontinenz – bei denen bitte sofort ein/e Ärzt*in aufgesucht werden sollte – bestehen, muss sich keine Sorgen gemacht werden. Es darf sich im Rahmen der Möglichkeiten weiter bewegt werden. Keep cool and move on! 

Mythos 2: Rückenschmerzen entstehen immer im Rücken

Rückenschmerzen sind ein komplexes Thema, bei dem die Forschung jedoch inzwischen sehr weit gekommen ist. Nämlich weg vom biomedizinischen und hin zum biopsychosozialen Schmerzmodell. Das bedeutet, dass für die Diagnose und die Therapie von Rückenschmerzen auch psychologische und soziale Faktoren miteinbezogen werden müssen. Denn nur wenige Rückenpatient*innen leiden unter Schmerzen, die ausschließlich körperliche Ursachen haben. 

Deshalb sind entsprechende Beschwerden beim Thema Rückenleiden immer multifaktoriell zu betrachten. Welche Faktoren im Leben des/der Patient*in können verbessert werden und wie sieht es bei den Themen Schlaf, Umgang mit Stress, gesunde Ernährung und dem sozialen Umfeld aus?

In der Caspar Clinic wird hier – neben der Trainingstherapie – viel angeboten: Von Vorträgen zum Thema gesunder Schlaf, über Ernährungstherapie mit Rezepten bis hin zur aktiven Anleitung für Muskelentspannung. 

Wichtig für das Schmerzverständnis ist, dass Betroffene darüber aufgeklärt werden, wie vielschichtig Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule betrachtet werden sollten und dass mehr als nur körperliche Faktoren mit hineinspielen. Das hilft oft schon den Druck zu nehmen, den die Betroffenen verspüren, wenn sie trotz regelmäßigen Umsetzen ihres Übungsprogramms  und anderen Tipps keine schnelle wahrnehmbare Linderung der Schmerzen erfahren.

Mythos 3: An Rückenschmerzen sind meistens die Bandscheiben Schuld

In den allermeisten Fällen liegt den Rückenschmerzen keine Bandscheibenthematik zugrunde. 

Dabei ist es wichtig, dass man Patient*innen über die Unterscheidung von spezifischen und unspezifischen Rückenschmerzen aufklärt. Ca. 90 - 95 % aller Betroffenen, die aufgrund ihrer Beschwerden eine/n Ärzt*in aufsuchen, erhalten die Diagnose “unspezifischer Rückenschmerz”. Unspezifische Rückenschmerzen lassen sich nicht auf eindeutig pathologische körperliche Veränderungen als Ursache der Beschwerden zurückführen. So schmerzhaft die Beschwerden dann auch sein mögen: Meist verschwinden die Schmerzen, auch ohne Therapie, rasch und von selbst. Nur äußerst selten sind sie gefährlich. Bereits die Definition “nicht-spezifischer Rückenschmerz” hat so den Vorteil, dass die Aufmerksamkeit von der ausschließlich orthopädischen Betrachtung hin zu einem Verständnis einer multifaktoriellen Genesung – ganz im Sinne des biopsychozozialen Schmerzmodells – gelenkt wird.

(Degenerative) Veränderungen der Wirbelsäule, wie z.B. ein Bandscheibenvorfall, führen auch nicht automatisch zu Schmerzen. So haben nach einer groß angelegten Studie von Brinjikji et al. (2015) fast 40 % aller 50-Jährigen oder 30 % der 20-Jährigen einen Bandscheibenvorfall – ohne dabei jegliche Schmerzen zu haben und vollkommen asymptomatisch zu sein. 

Im Übrigen zeigen die gängigen Wirbelsäulenmodelle und viele Abbildungen der Wirbelsäule, die man vielleicht im Kopf hat, niemals die kräftigen Muskeln, Sehnen und Bänder, welche die Wirbelsäule umgeben. Deshalb besteht schnell die Gefahr, dass man eine falsche Vorstellung der Wirbelsäule bekommt – und beispielsweise denkt, dass Bandscheiben oder Wirbel einfach „rausspringen“ könnten, was jedoch nicht der Fall ist, da diese fest verankert sind.

Mythos 4: Wer viel sitzt, bekommt automatisch Rückenschmerzen

Sicherlich ist etwas an dem Spruch “Sitzen ist das neue Rauchen” dran, nur so einfach lässt es sich nicht verallgemeinern. Denn Sitzen per sé ist kein großer Risikofaktor für Rückenschmerzen – sondern die Zeit der Inaktivität und des eher statischen (unbewegten) Sitzens. Das Verspannungs-Risiko der Muskulatur steigt, je länger in einer einzigen Körperhaltung verharrt wird. 

“Setz dich doch mal aufrecht hin!”. Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört. Ganz klar, wer gerade sitzt oder steht, ist geschützt vor Rückenschmerzen aller Art – oder etwa nicht? Zahlreiche Studien konnten inzwischen nachweislich belegen, dass jede (Sitz-)position, die für einen längeren Zeitraum ohne Unterbrechung eingenommen wird, das Potenzial hat, (Rücken-)Schmerzen und Verspannungen auszulösen. Demnach ist auch das Idealbild einer “perfekt aufrechten Haltung” nur ein Mythos. Die “eine” richtige Haltung gibt es nicht. Damit die Wirbelsäule effizient und langfristig entlastet wird ist daher der stetige Wechsel zwischen allen nur denkbaren Haltungen entscheidend. Vom „Rumlümmeln“, über das entspannte Anlehnen, das Stehen, das Umherlaufen, das Liegen bis zum vorbildlichen Aufrechtsitzen. All diese Positionen sind erlaubt und gesund für den Rücken – je vielseitiger, desto besser. 

Das Geheimrezept lautet hier also: Abwechslung schaffen und alle 15 - 20 min die Haltung ändern, um Verspannungenschmerzen und Muskelverhärtungen vorzubeugen. Ganz nach dem Motto: “Die nächste Haltung ist die beste Haltung.” 

Mythos 5: Zur Diagnose von Rückenschmerzen braucht man immer eine Bildgebung (MRT oder Röntgen)

Auch dieser Mythos konnte inzwischen entkräftet werden und in allen Leitlinien – sowohl nationalen als auch internationalen – wird bei Nichtvorliegen konkreter Anzeichen stark von einer Bildgebung abgeraten. Wichtig ist, dass die Ursache von Rückenschmerzen möglichst frühzeitig abgeklärt wird und MRT oder Röntgen wirklich nur gemacht werden, wenn der/die behandelnde Ärzt*in konkrete Anzeichen eines spezifischen Rückenschmerzes erkennen kann.

Gerade Bilder der Wirbelsäule und den Bandscheiben können Ängste hervorrufen, da in den meisten Fällen – auch bei jungen und aktiven Menschen – eine Degeneration oder Vorwölbungen der Bandscheiben gefunden wird. Das kann dann dazu führen, dass die Patient*innen Bewegungs- und Belastungsängste entwickeln, die sie von einem aktiveren Lebensstil abhalten.

Ich gebe meinen Patient*innen in diesem Fall immer das Beispiel einer randomisierten Studie mit, bei der 600 komplett symptomfreie Personen unterschiedlichen Alters ins MRT geschickt wurden. Das Ergebnis: Auch bei der Vielzahl der unter 30-Jährigen lagen schon Bandscheibenveränderungen vor. Damit versuche ich, die Panik zu nehmen, wenn auf den Bildern Veränderungen oder Degenerationen zu sehen sind. Mit einer Kombination aus individuell auf die Rückenschmerzen des/der Patient*in abgestimmte Trainingsübungen und der Verbesserung von allgemeinen Lebensstilfaktoren kann hier langfristig viel bewirkt und somit oft einer Chronifizierung der Schmerzen entgegengewirkt werden. 

Im Bereich Rückenschmerzenbehandlung verfügt das medizinisch-therapeutische Fachpersonal der Caspar Clinic über eine umfassende Bibliothek. Hier sind spezifische Rückenübungen als auch Übungen zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur enthalten. Nach einer ausführlichen Anamnese mit dem/der Patient*in, passen die Therapeut*innen die Übungen symptomspezifisch an und können diese auch im Behandlungsverlauf jederzeit flexibel umstellen oder modifizieren.

Seit April 2022 läuft zudem die HIRE (Hybrid In-Patient Rehabilitation)-Studie in acht Zentren für ambulante Rehabilitation, welche Caspar Health zusammen mit Nanz Medico, der Universität zu Lübeck und der DRV Bund ins Leben gerufen hat.

Bei dieser multizentrischen, randomisiert kontrollierten Studie stehen Patient*innen mit Rückenschmerzen im Fokus. Es soll primär der Effekt des durch Caspar Health digitalisierten Curriculums Rückenschule im Vergleich zu den bisherigen Präsenzveranstaltungen auf die schmerzspezifische Selbstwirksamkeit evaluiert werden.Darüber hinaus werden u.a. Arbeitsfähigkeit, Gesundheitszustand, Krankheits- und Behandlungswissen, Motivation sowie Behandlungszufriedenheit untersucht.

Das Curriculum Rückenschule ist ein von der DRV Bund im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie evaluierte Patient*innenschulung. Es besteht aus sieben Modulen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten. Ein Modul besteht jeweils aus den Bausteinen EInführung zum Thema, Wissen, Handeln und Reflektion. Diese standardisierten Module wurden für die digitale Nutzung aufbereitet und können von den Studienteilnehmer*innen über die Caspar Health Anwendung konsumiert werden. Neben den Wissensinhalten wird die Interaktion mit den Patient*innen im Rahmen von mehreren Gruppen-Video-Calls durchgeführt. 

Es bleibt spannend: Erste Ergebnisse zu den kurzfristigen Effekten werden im Q4/ 2022 erwartet. Die sich aus der Nachbefragung ergebenden langfristigen Ergebnisse könnten dann Ende 2023 präsentiert werden. Sollte sich die digitalisierte Version des Curriculums Rückenschule gleichwertig zur Präsenzveranstaltung erweisen, würde das für Rehakliniken bedeuten, dass ihnen mit dieser zusätzlichen digitalen Durchführungsform eine weitere Flexibilisierung ihrer rehabilitativen Versorgung zur Verfügung steht.